Montag, September 18

Die indische Industrie in ein paar Worten zusammengefasst, 16.09.06

Bauarbeiterin in Pune
Wahrscheinlich ist es vielen nicht bekannt, dass Indien eines der (nicht-kommunistischen) Länder ist, welches noch Protektionismus in Reinkultur betreibt. Auf die allermeisten Waren sind Importzölle von 100% vom Konsumenten zu berappen. Das verzerrt das gesamte Bild der Wirtschaft extrem.
Insgesamt muss man wissen, dass vereinfacht gesagt mit Ausnahme von IT und BPO die indische Industrie (noch) eine reine Binnenindustrie ist. Ironischerweise ist IT & BPO eine reine Exportindustrie.
Somit muss man sehr vorsichtig bei der Interpretation einer Meldung wie "Firma X verlagert Fertigungsprozess nach Indien" sein. Oft wäre die Formulierung "Firma X umgeht Importzölle durch Pseudowerk" zutreffender. Denn der "Trick" die Importzölle zu umgehen ist, die Endmontage / Endproduktion in Form eines Joint Venture mit einer Inlandsfirma in Indien anzusiedeln und somit als Binnenprodukt durchzugehen. Die Automobilmobil oder die Pharmaindustrie sind gute Beispiele dafür. Somit kostet dann ein Mercedes statt $230'000 ($100'000 + 130% Steuern) nur noch $130'000 ($100'000 + 30% Steuern).
Wie geht's weiter? Die Entwicklung ist spannend, denn die indischen Grossbetriebe stehen vor der Entscheidung, die Herausforderung mit der neuen Joint Venture Konkurrenz anzunehmen oder selbst ein Joint Venture mit dem Westen zu gründen, was eigentlich einer "Kapitulation" entspricht.
In Indien ist man westlichen Produkten sehr positiv eingestellt - Stichwort "Qualität", "Service", "Image". Der Chauffeur schwärmt z.B. von seiner Honda. Zum ersten Mal hat er kein indisches Motorrad mehr und ist begeistert: Es war nur geringfügig teurer, aber ist puncto Leistung und Zuverlässigkeit unvergleichbar besser. Ein Kollege erzählt, dass er nur noch Originalnetzgeräte für sein Handy kauft, denn die indischen Produkte geben nach 1 Monat den Geist auf.
Aber auch für die westlichen Firmen ist die Entscheidung nicht einfach, und eine Kosten-/Nutzenrechnung schwierig. In wichtigen Bereichen wie IT haben sich die Lohnpreise noch nicht etabliert (Beispiel: Mitarbeiter will plötzlich 35% Lohnerhöhung, Nachfolger verlangt 50% mehr Lohn etc.). Um die Kosten in den Griff zu bekommen, werden Fabriken oft in Randregionen aus dem Boden gestampft, wo die Arbeitskräfte noch sehr günstig sind und die Umweltauflagen bescheiden. Und oft wird die fehlende Infrastruktur unterschätzt, d.h. Leistungen, die aufgrund von Versäumnissen des Staates von der Firma zu leisten sind (Shuttlebusse / Chauffeure für Mitarbeiter, medizinische Versorgung, Postverteilung via Firmenwagen, Facilitator für Behördengänge, eigenes Reisebüro, unproduktive Warte- und Reisezeiten, Notstromaggretoren, Grünflächen, Lärm- / Gestankschutzwände etc.) sowie, dass im Gegensatz zu uns die Wirtschaft wesentlich mehr misstrauens- statt vertrauensbasiert ist (langwierige Zahlungsabwicklung, Vorauszahlungen, ewige Vertragsverhandlungen, Cash Payment etc.). Dem Konsumenten wird ein grosses Misstrauen entgegengebracht. Nur am Stellenmarkt ist das Gegenteil der Fall (Referenzauskünfte im Bewerbungsprozess wären z.B. undenkbar).