Donnerstag, September 14

The Indian Job Boom, 14.09.06

Im Ausland spricht man immer wieder, welche Heerschar junger, gut qualifizierter, Englisch sprechender Leute in Indien den Firmen zur Verfügung stehen. Sämtliche Gespräche, die ich mit dem Management und Kollegen hier führe, sagen dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Das Gros der Schulabschlüsse sind schlichtweg unbrauchbar und die Englischkenntnisse sind stark Passivkenntnisse. Hinzu kommt, dass auch sehr talentierte Absolventen kulturbedingt grosse Anfangsschwierigkeiten in einer westlich orientierten Arbeitswelt haben, wo Eigeninitiative und kritisches Hinterfragen verlangt sind. Vollkommen ausgetrocknet ist der Stellenmarkt für "Experienced Hires", insbesondere wenn noch Managementkenntnisse in westlichen Firmen gefragt sind. Die vielen IT- und BPO (Business Process Outsourcing) Stellen, die in letzter Zeit geschaffen wurden, tragen ausserdem dazu bei, dass der Stellenmarkt im "Hochpreissegment" in Indien zur Zeit ein reiner Nachfragemarkt ist. Wie wirkt sich das aus:
  • Positiv: selbst einfache Junior Consultants werden wie zarte Pflänzchen gepflegt, und die Firma springt überall dort ein, wo der Staat versagt. Ich spreche im Flugzeug mit einer Infosys SAP-Anfängerin, die ihre Eltern in Delhi besuchte. Sie wird am Montag morgen am Flughafen von einem Firmenwagen abgeholt, zuerst nach Hause und dann direkt in die Firma gefahren. Kaderleute haben eigenen Firmenwagen inkl. Chauffeur, normale Mitarbeiter werden in Sammeltaxis daheim abgeholt. Die Verpflegung in den Kantinen ist fast immer gratis, dazu werden regelmässig Kaffee, Biskuits, Wasser etc. direkt auf den Schreibtisch gebracht, Qualitätszeitungen werden gratis verteilt, und die Büros mit frischen Blumen versorgt. Firmen haben eigene Ärzte und sonstige Arztrechnungen wirft man einfach in eine Box.
  • Positiv für den Angestellten: The War of Talents nimmt groteske Auswirkungen an. Der schwierigste Job ist wohl der des IT-Chefs. Alle paar Wochen sagt jemand "Tschüss", weil er anderswo 50% und mehr Lohn bekommt. Ein guter Hochschulabsolvent verdient 10 Mal mehr als ein Taxifahrer (100 - 120$) und ein Chef dann gleich das 100fache. Accenture macht Recruitingannouncen via Fernseher und besonders amusant ist die TV-Show "Get the Job". 4 Kandidaten müssen Fragen wie "Warum ist Honeywell so stark?" oder "Was machst du, wenn ein Amerikaner eine abschätzige Bemerkung über dein Land macht?" beantworten. Im "Indian English" rasseln sie die auswendig gelernten Textbausteine herunter. Nach 20min ist die Show aus, und meistens bekommen dann gleich 2 von 4 den Job ("First you had a weak performance but you catched up fast. That's the people we like.").
  • Positiv für Manager: für Topstellen sind die Löhne explodiert. 1 Mio. $ für Chefs wird immer mehr üblich, aber auch die 2. Garde kann immer mehr westliche Löhne durchsetzen, denn die Voraussetzung "Auslandserfahrung" wird immer wichtiger und ist doch relativ selten. (Anderseits erfüllen z.B. in den grossen Consultingfirmen praktisch 100% dieses Kriterium.) Ich kann das eigentlich nur unterstreichen: Inder mit Westerfahrung sind für mich gold wert (höhere Effizienz, "Hausverstand" und perfektes Englisch!). Trotz der Lohnentwicklung: gegen Indien spricht praktisch immer die Lebensqualität. Das Beispiel eines neuen Deutschen COOs , der nach 4 Monaten der Handtuch warf, ist keine Seltenheit.
  • Negativ: unter dem Boom leidet die Qualität. Wenn man Leute fragt, wie lange sie bei der Firma sind, erfolgen meist Monatsangaben. IT-Firmen mit einer jährlichen (!) Fluktuation von unter 40% sind die Ausnahme. Kommt hinzu, dass indische Absolventen praktisch alle gen Westen schielen und, wenn dann das versprochene Secondment nicht klappt, gleich abspringen. Im BPO-Business ist noch ein weiteren Phänomen, dass gerade US-Firmen, die wegen Qualitätsmängel Schäden erlitten haben, mit der Brechstange versuchen das Problem in den Griff zu bekommen - Bsp.: Call Center Agents brauchen ein MBA. Kein Wunder, dass dann die Leute schnell frustriert sind und abwandern! Und wenn westliche Consultingfirmen jemanden nach 1 Jahr "Experte" nennen, ist das in Indien nach 3 Monaten. Durch den anderen Arbeitsstil (extrem team-orientiert) funktioniert das zwar, ist aber nicht effizient (und irgendwer muss ja dafür bezahlen).
Alle, mit denen ich gesprochen habe, sind sich einig, dass diese Entwicklung nicht lange weitergehen wird, denn mehr qualifizierte Leute kann das indische System kaum mehr "produzieren" (Reminder: >80% leben faktisch in einer anderen Welt!). Andererseits wird auch die Nachfrage abnehmen. Die BPO-Wachstumsraten sinken dramatisch, nachdem viele US- & UK-Firmen wie z.B. Apple und Intel ihre Indien-Offshoring-Programme sistieren. Viele langjährige Kontrakte laufen jetzt, nach 5-7Jahren, aus und werden nicht selten nicht mehr verlängert (Gründe meist: mangelnde Qualität, Compliance & Security, Kostenentwicklung, fehlende Kontinuität etc.).
Ich persönlich sehe eine Riesennachfrage im "Anti-Chaos"-Business, insbesondere der Service-Industrie (Banken, Versicherungen, Travel, Logistik, IT Mgmt. Consulting, Retail), alles Leistungen, die in Indien kurzum "katastrophal" sind (bürokratisch und/oder staatlich, unzuverlässig oder nicht existent). Bestes Beispiel: Seit kurzem sind private Airlines erlaubt, die die staatlichen Airlines schlicht überflüssig machen. Jet Airways, privat mit westlichem Management geführt und seit diesem Jahr Mitglied der Star Alliance, verdoppelt ihren Umsatz jährlich. Sie übernimt auch gleich den ganzen Bodenservice. Keiner meiner Flüge, war nicht 100% ausgelastet und dies zwecks fehlender Alternativen auf Strecken von 120km! Der Preis von >100$ pro Weg für so einen Flug ist offenbar kein Problem.