Mittwoch, Oktober 4

Fragen zu Arbeitsstil, Freizeit, Europa und Ähnlichem, 04.10.06

Danke für Eure Fragen und Beiträge. Hier mein Versuch dazu Stellung zu nehmen:
Kannst Du mehr Analysen zum indischen Arbeitsstil, zur Geschäftsphilosophie, Hierarchien und Führungsstil liefern?

Ich möchte dazu gleich vorausschicken, dass es genauso wie bei uns sehr verschiedene Charaktere gibt: den Chaoten, den Selbstdarsteller, den Bremser etc. Dennoch kann man schon ein paar Grundaussagen machen:
  • Insgesamt ist die Projektarbeit mit Indern recht einfach. Zumindest bei mir war es so, dass ich sehr schnell akzeptiert war und dass man auch recht direkt ausdrücken kann, was man meint. Wenn man sich bewusst ist, dass man in einem Land sich befindet, wo praktisch nichts funktioniert und jeder auf sich gestellt ist und sich "durchkämpfen" muss, kann man auch die meisten Verhaltensmuster in der Arbeit sich besser erklären.
  • Meine goldene Regel mit Indern lautet "Entweder geschieht etwas sofort, oder es geschieht nie." Dies sollte man sich unbedingt zu Herzen nehmen. Eine Monatsplanung wird niemand ernst nehmen. Das wichtigste ist Prioritäten zu setzen, und zu kommunizieren, was jetzt und sofort zu erledigen ist. Sehr wenig später kontrollieren, ob erste Ergebnisse da sind und ggf. sofort einschreiten. Der positive Aspekt dieser Lebenseinstellung ist, dass niemand es einem übel nehmen wird, wenn man vor einer Woche etwas versprochen hat, das man jetzt nicht einhalten kann.
  • Inder sind in aller Regel Minimalisten, aber durchaus pflichtbewusst. Auch dies widerspiegelt das tägliche Leben. Solange ein Haus nicht zusammenbricht, wird niemand irgendeinen Aufwand in das Haus stecken. Ich habe recht erfolgreich das Spiel gespielt, sofern Minimalstandards eingehalten wurden, zu akzeptieren, die Arbeit weiterzuleiten, das (logische) Nicht-OK von Europa abzuwarten und dann das wieder weiterzukommunizieren (Motto: I know, the Germans are details oriented, but we have to ...). Denn, und das ist der positive Effekt, im Gegensatz zu unserer Kultur wird der Inder (und auch wenn er Chef ist) ein "Muss" akzeptieren, auch wenn es noch so unsinnig ist.
  • Bei allen "nice to have" Dingen ist die Servicequalität prinzipiell miserabel - an das muss man sich gewöhnen, und hier hat sich meiner Meinung nach immer noch keine Kultur entwickelt. Beispiel: Ich habe ein IT-Problem. Ich rufe den IT-Support an. Er verspricht in 5 Minuten hier zu sein. 20min später rufe ich nochmals an. Er verspricht in 5 Minuten hier zu sein. 20min beschwere ich mich beim "Big Boss". Innerhalb 30Sekunden steht der beste Mann vom Support bei mir. Er löst das Problem rasch, aber (natürlich) mit einer Minimallösung. Dieses Spiel widerholt sich beliebig oft.
  • Bzgl. Hierarchien und Führungsstile herrschen bei uns viele Vorurteile. Der Business-Alltag ist "very casual", und die Hierarchien sind anders als bei uns. Es herrscht ein riesiger Unterschied zwischen Servicepersonal (Servierer, Drivers, Telefonisten, Office Supply etc.) und dem qualifizierten Personal. Servicepersonal kann man auf Deutsch gesagt wie Dreck behandeln. Ausserdem gibt es eine klare Führungsebene ("obere Chefs"). Innerhalb der Gruppen ist aber der Arbeitsstil extrem kollegial. Ein Inder will niemals allein sein. Es ist keine Seltenheit, dass vier Leute vor einem Bildschirm eifrig am Diskutieren sind.
    Ein weiteres Phänomen ist, dass von Kind auf Unselbst- ständigkeit und Arbeitsauf- teilung gelehrt werden. Bestes Beispiel ist das Organisieren einer Geschäfts- reise. Man fragt das Travel Office. Das hat dann einen Facilitator für Visa etc, kontaktiert eine Travel Agency fürs eigentliche Reisen, die kontaktieren dann einen Broker, der kontaktiert mehrere Firmen etc. Resultat sind für unsere Begriffe unglaubliche Ineffizienzen. Inder habe eine schier unglaubliche Geduld zum x-ten Mal Rückfragen etc. zu beantworten.
    Deshalb bin ich auch der festen Meinung, dass der Einsatz eines 1000$ verdienenden Programmiers in einem "normalen" indischen Businessumfeld sich nie und nimmer rentieren wird. Der Versuch von Accenture, IBM oder EDS in Indien Töchterfirmen nach streng amerikanischen Prozessmodell aufzubauen scheint mit der einzig sinnvolle Weg. Denn im Normalfall (Fall eines konkreten Gespräch mit einer indischen SAP-Spezialistin) wird der Senior Business Analyst, der als einziger beim Kunden auftreten darf, seine Erkenntnisse grob dem Business Analyst im Back Office erzählen, der dann dies formal zu Papier bringt. Dieser ist sich aber zu schade zu programmieren und wird einen Junior Programmierer beauftragen. Dieser wird beim kleinsten Problem drei andere Juniors fragen, die dann zur Sicherheit den Senior fragen, der dann etc. etc. etc.
Was denken Sie über Europa?

Kurzum: Europe is great. Switzerland is paradise. Jeder Inder wird von seinem Europaurlaub schwärmen. Sogar das Essen wird in höchsten Tönen gelobt. Everything organized, everything clean etc. "Corporate" USA wird auch aufs höchste gelobt, weniger einverstanden ist man mit der amerikanischen Politik. Für uns überraschend ist, dass wir als wirkliche Stimmungskanonen wahrgenommen werden. Ein Driver, der im Mitarbeiterhaus der kanadischen Botschaft aufgewachsen ist, sagt mir: "Canadians are great: always smiling, always happy". Das gleiche wird über Schweizer gesagt (very interesting ...).

Gibt es trotzdem einige (wenige) Leute in deiner Indien-Umgebung, die sich Zeit zum Nachdenken und für das Konzipieren beständiger Lösungen geben?
Natürlich gibt es Ausnahmen. Mein indischer Kollege, der Jahre in England verbracht hat, war ein richtiger Philosoph. Aber kurzum kann man sagen: das extrem kurzfristige Denken ist wohl das markanteste Merkmal von Indien. In "Corporate HR" habe ich gelesen, dass es praktisch keinen CEO gibt, der glaubhaft sich mit Strategiefragen beschäftigt. 70% Fluktuation werden immer üblicher. Kurzfristig Geld machen spielt eine enorme Bedeutung in der Gesellschaft.

Insgesamt war ich 6.5 Monate in Bombay und 1.5 in Goa. Ich fand Indien nicht so toll, weil ich auch das Essen nicht so mag. Und du? Gefällts dir?
Als Tourist wäre ich extrem enttäuscht gewesen. Für meine Begriffe ist Indien schlichtweg "kaputt gemacht" und für mich persönlich ein Mahnmal, was passieren kann, wenn eine Gesellschaft über längere Zeit gegen statt mit der Natur lebt. Ich hätte mir zudem auch nicht vorgestellt, wie rückständig Indien ist. Ich hatte nur den Vergleich mit Marokko und Südafrika, und die sind in einer anderen Dimension. Ein Kollege hat den Vergleich zu Ägypten und sagte auch dieses und insb. Kairo sind in einer anderen Dimension.
Zum Arbeiten war es interessant, aber die Lebensqualität war extrem eingeschränkt. Was ich schlichtweg unakzeptabel finde, ist der akzeptierte Minimalismus und das komplett fehlende Sicherheitsdenken. Im Foto sieht man ein Fenster des Flughafens von Pune!